Super-GAU am AKW

Der Super-GAU am AKW: Ein Essay über den Mythos der absoluten Sicherheit.

Resumé gleich vorweg

Eine rein theoretische, mathematische Beispielrechnung zeigt im Folgenden: nimmt man z.B. an, dass die Wahrscheinlichkeit für irgendein Ereignis, das einen Super-GAU an einem AKW verursachen kann (etwa ein Tsunami) an einem Tag 0,0001% ist, dann ist bei 100 betroffenenen AKW in 20 Jahren die Wahrscheinlichkeit für einen Super-GAU schon mindestens über 50% ! Das zeigt: Selbst extrem unwahrscheinliche Gefahrenereignisse führen zu einer drastischen Sicherheitslage aufgrund der vielen AKW und der langen Zeiträume.

Die Praxis sieht entsprechend leider sehr düster aus, da die Realität viele verschiedene solcher „Super-GAU Ereignisse“ möglich macht. Die aktuelle Datenlage zeigt, dass wir im Schnitt etwa alle 11 Jahre einen Super-GAU weltweit erwarten müssen, was 11 Jahre nach Fukushima nicht gerade beruhigend ist.

Mehr dazu, Schritt für Schritt, im Folgenden.

Absolute Sicherheit

Im Kopf mancher Menschen gibt es den Gedanken des „Absoluten“. Dieser ist sehr realitätsfern. Bezogen auf Ereignisse bedeutet er insbesondere, dass bestimmte Ereignisse mit „absoluter Sicherheit“ eintreten würden.

Ein einfaches Beispiel ist das Aufgehen der Sonne. Dieses mag auf den ersten Blick „absolut sicher“ sein, doch gibt es tatsächlich wenige, extrem unwahrscheinliche Ereignisse, die dazu führen würden, dass die Sonne tatsächlich nicht mehr aufgeht. Beispiele wären etwa:

  • die Entwicklung der Sonne in einen roten Riesen (in etwa 5,5 Milliarden Jahren)
  • Einwirkungen von außen auf unser Sonnensystem (etwa durch ein sich auftuendes schwarzes Loch)
  • die Existenz einer oder mehrerer zusätzlicher Dimensionen (wie etwa in der String-Theorie, vgl. Link) und deren Auswirkungen
  • … es gibt vermutlich weitere.

Der Punkt hier ist aber, dass die Wahrscheinlichkeit dieser komplementären Ereignisse zum „Aufgehen der Sonne“ zwar extrem klein ist, astromisch klein, aber eben nicht Null (0). Es gibt in unserem Universum kein Ereignis mit der A-priori Wahrscheinlichkeit 0. „Absolut sicher“ sind Dinge immer erst im Nachhinein.

Ereignisse und komplementäre Ereignisse

Zu jedem Ereignis A, das eine Wahrscheinlichkeit p hat, gibt es das umgangssprachlich das „Gegenereignis“, dass A nicht eintritt. Der Mathematiker nennte es „komplementäres Ereignis“. Dieses hat die Wahrscheinlichkeit 1-p. Dieses letzte ist dabei Grundlagenmathematik. Das heißt für ein „absolut sicheres“ Ereignis mit p=1, dass das komplementäre Ereignis die Wahrscheinlichkeit

q = 1-p = 1-1 = 0

hat, also gar nicht eintreffen kann. Diese „absolut sicheren“ Ereignisse in Bezug auf menschliche Technologie gibt es nicht. Die komplementären Ereignisse sind aber oft extrem unwahrscheinlich. Manchmal so unwahrscheinlich, dass ihre Wahrscheinlichkeit fast Null ist. Also z.B. 0,000001 %.

Der Blitz – ein lokal und zeitlich sehr unwahrscheinliches und doch alltägliches Ereignis

Viele Beispiele für derart sichere Ereignisse im technischen Bereich gibt es sicher nicht. Ein absolut sicheres Ereignis basierend auf menschlicher Technik gibt ers schlicht nicht. Ein einziges noch so unwahrscheinliches komplementäres Ereignis mit q≠0 zeigt das Gegenteil.

Absolute Sicherheit in der Praxis

Die Atomfrage

Nehmen wir an, Du bist bis hierhin einverstanden. Dann kannst Du dennoch einwenden: ja, aber es gibt doch derart unwahrscheinliche Ereignisse, dass das komplementäre Ereignis als nahezu absolut sicher betrachtet werden kann.

Ein häufig genanntes Beispiel ist die Sicherheit von Kernreaktoren, also Atomkraftwerken. Von der Frage des radioaktiven Abfalls und der nicht gelösten Frage der Endlagerung abgesehen ist aber auch genau diese Sicherheit ein Irrglaube.

Warum? Dazu eine (für Mathematik-affine Menschen) einfache Rechnung.

Viele unwahrscheinliche Ereignisse

Sei A das Ereignis eines Super-GAUs (über (Super) dem größten anzunehmenden Unfall).

Nun wird oft argumentiert, dass A praktisch nicht eintreten kann, dass also das komplementäre Ereignis ¬A (es tritt kein Super-GAU ein oder das AKW ist sicher) quasi sicher ist, also so gut wie immer eintritt. Es wird argumentiert, dass nur alle 10000 Jahre etwas passieren könne und ähnliches.

Hier ist ein wichtiger Punkt: Das Ereignis A kann grundsätzlich jeden Tag eintreten, zu jeder Zeit (t), wenn auch sehr unwahrscheinlich. Außerdem kann A in jedem Kraftwerk (n) auftreten.

Darüber hinaus lassen sich viele (unwahrscheinliche) Ereignisse B1, B2, B3, … ausmalen, die alle zu A (dem Super-GAU) führen. So ist

A = B1 ∪ B2 ∪ B3 ∪ …

und insbesondere ist damit ¬A (alles sicher) das Ereignis, dass keines der Ereignisse B1, B2, B3, … eintritt:

¬A = ¬B1 ∩ ¬B2 ∩ ¬B3 ∩ …

Insbesondere ergibt sich damit aber dann die Wahrscheinlichkeit p(¬A), dass kein Super-GAU eintritt, aus dem Produkt der p(¬Bi), also

p(¬A) = p(¬A; n; t) = p(¬B1; n; t) * p(¬B2; n; t) * p(¬B3; n; t) * …

Ist nun ein Bi doch etwas wahrscheinlicher, also p(Bi; n; t) etwas größer als 0, dann ist p(¬Bi; n; t) etwas kleiner als 1 und auch das Produkt p(¬A) wird nun kleiner als 1, da ja stets 0 <= p <= 1 . Dann ist aber insbesondere p(A) = 1 – p(¬A) nicht mehr nahe Null sondern wird merklich größer. A (also der Super-GAU) ist also immer wahrscheinlicher, je mehr mögliche Gefahren es gibt.

Ein langer Zeitraum: Ein Beispiel mit Zahlen für den Super-GAU am AKW

Nehmen wir nun irgend eines dieser unwahrscheinlichen möglichen Ereignisse Bi heraus und nehmen wir an, es trete an einem Tag t mit der Wahrscheinlichkeit 0,0001% in/an einem bestimmten der AKW n auf. Dann ist

p(Bi; n; t) = 0,000 001

Und die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht auftritt, ist

p(¬Bi; n; t) = 1 – 0,000 001

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bi an keinem der AKW auftritt

p(¬Bi; alle N AKW; t)

= p(¬Bi; AKW1; t) * p(¬Bi; AKW2; t) * p(¬Bi; AKW3; t) * … * p(¬Bi; AKWN; t)

= p(¬Bi; n; t)N

N landet im Exponenten.

Und entsprechend nach M Tagen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bi an keinem der AKW auftritt, gerade die Wahrscheinlichkeit, dass Bi an keinem Tag auftritt, also

p(¬Bi; alle N AKW; M Tage) = p(¬Bi; n; t)N*M

Auch hier landet M im Exponenten.

Ist nun p(¬Bi; n; t) = 1 – 0, 000 001 ergibt sich für 20 Jahre (7300 Tage) und 100 AKW:

p(¬Bi; alle 100 AKW; 7300 Tage) = (1 – 0, 000 001)100*7300 = (0, 999 999)730000 = 0.4819088…

Und somit ist

p(A; 100 AKW und 20 Jahre) > p(Bi) = 1 – p(¬Bi) ≈ 0,518 = 51,8% !

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 51,8% einen Super-GAU riskieren wollen wird niemand.

Absolut sichere Atomkraftwerke?

Nun dies ist zunächst „nur“ eine Beipielrechnung.

Es wurde auch nur irgend eines der möglichen unwahrscheinlichen Ereignisse Bi angenommen. Dies könnte z.B. „ein Erdbeben“ sein. Betrachtet man AKWs realistisch, sind der Phantasie für mögliche Ereignisse, die zum Super-GAU führen, keine Grenzen gesetzt: Blitzeinschlag, Überschwemmung, Tsunami, extreme Hitze/Kälte, Terror, Wahnsinn, menschliches Versagen, technischer Defekt, Versagen durch Alter, …

Wie eingangs erklärt führt jedes einzelne dieser weiteren unwahrscheinlichen „Super-GAU-Ursachenereignisse“ Bi zu einer noch wesentlich niedrigeren Wahrscheinlichkeit für das Ereignis „nicht-Super-GAU“ und damit zu einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit für das Ereignis „Super-GAU“.

Der entscheidende Punkt ist, dass bei etwas wie einem Super-GAU nicht wichtig ist, wie unwahrscheinlich etwas ist, sondern über welchen Zeitraum und in wieviel Fällen welche unwahrscheinlichen Ereignisse alle nicht auftreten dürfen. Sicherheit ist die Frage danach, dass etwas nicht passiert.

Fazit

Es geht nicht darum, dass Sicherheit-schaffende Ereignisse passieren können, sondern dass gefährliche Ereignisse nicht passieren dürfen. Letzteres ist sehr unwahrscheinlich über längere Zeiträume und viele Fälle bzw. Ereignisse.

Das Ganze ist nicht nur „bloße Theorie“. Seit vielen Jahren gibt es weltweit viele Nationen, die auf Atomkraft setzen. Gegenwärtig (Stand: 24. Dezember 2021) betreiben 33 Staaten weltweit 442 Kernreaktoren mit einer gesamten elektrischen Nettoleistung von rund 394 Gigawatt. Knapp die Hälfte aller in Betrieb befindlichen Reaktoren stehen in drei Staaten: Vereinigte Staaten (94), Frankreich (56) und Japan (33). Zur Erinnerung: Die letzten drei bekannt gewordenen Super-GAUs fanden vor 11 Jahren in Fukushima, Japan statt.

Die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAUs pro Reaktorjahr ist somit weltweit aufgrund der Datenlage aktuell stattliche 0,02% (laut MPG, a posteriori gerechnet). Daraus kann man leicht die a priori Wahrscheinlichkeit für die aktuell 442 AKWs gesamt ausrechnen:

pgesamt = 442 * 0,02% = 8,8% (für einen GAU pro Jahr weltweit)

100% / 8,8% = 11,4. Wir müssen also im Schnitt etwa alle 11 Jahre einen GAU weltweit erwarten, was 11 Jahre nach Fukushima nicht gerade beruhigend ist.

GAU am AKW

Atomkraftwerke sind nie absolut sicher. Braucht es erst einen Super-GAU in Mitteleuropa, damit das hierzulande alle verstehen? An der Loire z.B., deren Wasser zur Kühlung für 12 französische AKWs benötigt wird, herrscht im August 2022 durch den Klimawandel dramatische Trockenheit … man braucht nicht viel Phantasie für „unwahrscheinliche Ereignisse“.

SH, 03.2021

Update SH, 08.2022


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